„Alle Maßgaben für das Stechen besagen, dass man zuallererst den Geist als Grundlage in Betracht ziehen muß.“ (Ling Shu, Kap. 8)

Sie spricht mir einfach aus der Seele, unsere liebe Lynn. 

Neulich war ich im Internet unterwegs und interessierte mich mal wieder dafür, was in anderen Akupunkturausbildungen angeboten wird. Ich sah mir das Angebot etlicher Institute an, verglich die Curricula (soweit ersichtlich). Ich las die Ausschreibungen, ließ die Eindrücke wirken, die ich insgesamt von verschiedenen Ausbildungsstätten bekam. Und je länger ich mich damit beschäftigte, desto trauriger wurde ich. Und desto wütender. Wo ich auch hinsah, ging es vornehmlich um Leistung. Es ging um Zertifizierungen verschiedener Art, um die Einhaltung von „Standards“, um die „Anerkennung“ durch irgendwelche Stellen. Alles, was ich dort fand, war sich in erster Linie auf „Richtig-machen“ ausgerichtet, auf Geltung in der akademischen Welt, auf Prestige. Wir erfüllen die Standards, wir sind zertifiziert, wir machen es „richtig“.

Keine, und zwar wirklich keine dieser Ausbildungen stellte den Menschen und den Geist in den Mittelpunkt. Wie ist das möglich? Wozu will ich denn Chinesische oder überhaupt irgendeine Medizin lernen? Wozu, wenn nicht aus einem tiefen Bedürfnis heraus, Menschen in Schwierigkeiten zu unterstützen? Menschen, die krank sind, die Schmerzen haben, die leiden, Angst haben, sich hilflos oder ohnmächtig fühlen. Die unter Umständen schon eine lange Krankengeschichte mitbringen. Die in emotionalen Krisen stecken. Die neben körperlicher noch viel dringender oft geistig-emotionale Unterstützung brauchen.

  

Qualität zählt

Bitte versteht mich richtig: ich lege auch großen Wert auf Qualität. Ich bin sehr daran interessiert, immer weiter dazu zu lernen, mein Wissen und Können zu erweitern und zu vertiefen. Immer besser, immer effektiver zu werden in dem, was ich tue. Ich möchte, dass es meinen Patienten besser geht. Ich möchte, dass meine Behandlungen etwas bewirken.

Und ich verstehe das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Absicherung. Denn wenn die Ausbildung, die ich mache, einen bestimmten Standard erfüllt, wenn sie einer anerkannten Norm entspricht, dann ist sie ja qualitativ hochwertig, nicht wahr? Dann lerne ich es ja „richtig“, so dass ich es dann auch „richtig“ machen kann. Dann kann ich darauf vertrauen, dass meine Zeit und mein Geld hier gut investiert sind.

Ich verstehe das. Ich möchte auch nichts falsch machen mit den Menschen, die sich mir anvertrauen. Ich will ihnen nicht schaden und auch nicht ihr Geld verschwenden. Und ich möchte auch nicht mein Geld verschwenden, wenn ich in eine umfangreiche Ausbildung investiere.

Akupunktur ist in erster Linie eine geistige Methode

Aber warum muß das bedeuten, dass das, was nach den Klassikern eine der wesentlichen Grundlagen für die Akupunktur ist, kaum oder überhaupt nicht vorkommt? Wie ist das möglich?  

„Alle Maßgaben für das Stechen besagen, dass man zuallererst den Geist als Grundlage in Betracht ziehen muß.“ 

Wohin ist er denn verschwunden, der Geist? Im berühmten 8. Kapitel des Suwen (einem der klassischen Werke der Chinesischen Medizin) wird als allererstes über das Herz gesprochen. Das Herz als Kaiser und Meister, von dem der Geist shen und die Klarheit ming stammen.

Und an zweiter Stelle direkt nach dem Herzen erscheint dort der Tan Zhong, der Privatsekretär und Botschafter des Herzens, „der die friedliche und frohe Botschaft des Kaisers überbringt.“ (Suwen 8)

Die Platzierung dieser beiden Instanzen an so hervorgehobener Stelle sagt viel aus über ihre Wichtigkeit, über ihre Bedeutung für das Verständnis der Chinesischen Medizin. Wie kann es dann sein, dass selbst in dieser Heilkunst diese herausragenden Aspekte heutzutage in überwiegenden Teilen völlig verschwunden sind?

Viele von uns, seien wir nun selbst in der „Alternativen Medizin“ tätig und/oder auch einfach nur selbst Patienten, sind schon mit der Seelenlosigkeit der modernen westlichen Medizin in Berührung gekommen, haben sie schon an eigenem Leib und Seele erfahren. Ich höre immer wieder erschütternde Berichte darüber in meiner Praxis, in unserer Schule, von Freunden und Verwandten und könnte auch selbst die eine oder andere Geschichte dazu beitragen. (Und um dem Aufschrei jetzt zuvorzukommen: Ja, es gibt auch Ausnahmen, selbstverständlich. Aber es sind eben Ausnahmen…)

Aber seien wir mal ehrlich: in der Naturheilkunde, der Chinesischen Medizin, der Osteopathie und anderen Disziplinen sieht es oft auch nicht besser aus! Und gerade in Bezug auf die Akupunktur schmerzt es mich besonders, da deren Wurzeln so eindeutig etwas völlig anderes besagen. Nicht nur im Suwen, in vielen klassischen und neoklassischen Werken finden sich ähnliche Aussagen über die zentrale Bedeutung des Geistes, des Herzens in der Behandlung.

Das LingShu beispielsweise, der älteste noch existierende Klassiker über die Akupunktur, ist in weiten Teilen ein sehr praktisches Buch. Hier geht es um Leitbahnen, um Nadeltechniken, um den Umgang mit Qi, Blut und Flüssigkeiten usw.. Aber auch in diesem Werk widmet sich ein ganzes Kapitel (auch wieder das 8.) der Bedeutung des Shen, des Geistes in der Behandlung.

Und damit ist nie nur der Shen des Patienten, sondern immer auch der des Behandlers gemeint! Ich als Akupunkteur, als Arzt muß im Geist verwurzelt sein, brauche ein offenes,  leeres Herz, damit ich die Einflüsse des Himmels empfangen und durch mich wirksam werden lassen kann. Ich brauche Mitgefühl und einen klaren inneren Raum, den ich meinen Patienten zur Verfügung stellen kann, auf dass sie dort ebenfalls zur Ruhe und zu sich selbst zurückfinden können. Denn das ist die Grundvoraussetzung für jeden echten Heilungsprozess.

Warum also kommen diese so entscheidend wichtigen, tragende Aspekte der Heilkunst, jeder Art von Medizin, insbesondere der Chinesischen, in so vielen „modernen“ TCM-Ausbildungen nicht vor? Wieso gehört das nicht in jeder medizinischen Fakultät, in jeder Akademie, in jedem Institut, in jeder Heilpraktikerschule standardmäßig auf den Lehrplan?

  

Ein heilsames Feld

Also ich will mehr als „Standards“, seien sie auch noch so international. Ich will Kontakt. Ich will Vertrauen. Ich will einen Raum schaffen, in dem die Menschen, die zu mir kommen, es wagen können, sich zu öffnen. Sich mitzuteilen. Die Dinge auszusprechen, die sie schon so lange mit sich herumtragen. Die sie lieber im Verborgenen halten, vielleicht sogar vor sich selbst. Sich zu offenbaren mit den Angelegenheiten, in denen sie nicht funktionieren. In denen sie nicht „richtig“ sind. In denen sie nicht auf sich aufgepaßt haben. In denen sie sich „falsch“ fühlen, ungenügend, unfähig. Klein, wütend, eifersüchtig, feindselig. Oder unendlich traurig, schmerzerfüllt.

Ich möchte, dass die Menschen, die zu mir kommen, das Gefühl kriegen, dass sie mir alles erzählen können. Dass ich Raum für sie habe, dass ich ein Ohr für sie habe. Dass ich vielleicht hier und da sogar eine Antwort für sie habe, einen neuen Impuls, eine neue Sichtweise. Und wenn nicht, dass ich jedenfalls da bin und auch da bleibe, selbst wenn ich gar nichts weiter für sie tun kann. Dass sie nicht nur ein Symptom sind, eine Diagnose. Sondern ein Mensch, der in irgendeiner Weise verletzt ist und Hilfe braucht, ein heilsames Feld, in dem er endlich mal entspannen, zur Ruhe, zu sich kommen kann. Sich selbst wieder fühlen kann.

Ich möchte mich selbst gerne immer weiter dahin entwickeln, „im Geist verwurzelt“ zu sein. Mein Herz immer wieder und immer weiter zu leeren, meinen Tan Zhong als Wohnraum des Herzens zu klären und aufzuräumen, auf das ich den „großen Geist“, den Shen, das Absolute, das Dao, den Himmel oder wie immer ich es nennen will, dort empfangen kann. Auf dass ich die Verbindung zu dieser höheren, kraftvollen, schöpferischen Lebendigkeit, die wir alle von unserer Entstehung an in uns tragen, immer mehr zu spüren und zu erleben lerne.

Und ich finde das nicht „esoterisch“. Ich finde das zutiefst lebendig, menschlich, freudig, „ganzheitlich“ im wahrsten Sinne des Wortes. Ich finde das natürlich. 

Und ich würde mich sehr freuen, wenn dieser kleine Beitrag die eine oder den anderen da draußen erreicht. Und bestätigt, stärkt, motiviert oder wachruft. Faßt Euch ein Herz! Wir werden gebraucht da draußen.

Eure Lynn 

 

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